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Eine Doppelstunde der besonderen Art …

Unterricht, der nicht im Lehrbuch steht.

Plötzlich wird es ruhig, ist es sehr still im Mehrzweckraum des städtischen Gymnasiums. Die etwa fünfzig Schülerinnen und Schüler aus Horn-Bad Meinberg und Schlangen, die an den in Hufeisenform angeordneten Tischen sitzen, gehören allesamt Leistungs- und Grundkursen des Schulfaches Pädagogik an, einem ihrer diesjährigen Abiturfächer. Der Mann, der morgens um acht Uhr von Berlin-Spandau per Bahn zu seiner Reise nach Lippe aufgebrochen war und nun um Punkt Eins auf Einladung von Schulleiter Dr. Pahmeyer vor ihnen steht, nimmt die Gymnasiasten aufmerksam und freundlich zugewandt mit leicht gesenktem Kopf in den Blick. Dieser Herr ist den ‚Nachwuchspädagoginnen und -pädagogen‘ nicht fremd. Weit über die Fachwelt hinaus hat er sich schon lange einen Namen gemacht als Erziehungs-, Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler, eine Aufzählung, die sich fortsetzen ließe. Begegnet waren sie dieser Person zwar schon, etwa während ihrer digitalen Recherche nach seinen Interviews zu neuesten Trends der Jugendforschung und Ergebnissen von Shell-Jugendstudien. Als Autor auflagenstarker Fach- und Lehrbücher zur Sozialisation und Erziehung hatten sie seinen Namen gelesen und im Zuge ihrer diesjährigen Abiturvorbereitungen kommen sie an dem Urheber prägnanter Maximen und Thesen ohnehin nicht vorbei. Nun erleben sie ihn, der aktuell als Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in der Bundeshauptstadt tätig ist, in einer Doppelstunde der besonderen Art – ‚live‘.

Herausforderung – Die Reise in das Erwachsensein

In der Bildmitte: Schulleiter Dr. Pahmeyer (l.) und Prof. Dr. Hurrelmann (r.)

Hurrelmann, der sich zeitlebens und besonders während seiner langjährigen Tätigkeit an der Universität Bielefeld immer auch mit den Übergängen vom Kindes- über das Jugend- zum Erwachsenenalter beschäftigt hat, doziert nicht. Er fordert die jungen Menschen heraus, will von ihnen erfahren, inwieweit sie selbst sich bereits „erwachsen“ fühlen. Im Dialog sucht er mit ihnen nach Erklärungen dafür, warum die Kindheit immer kürzer ausfällt. Er wirft die Frage auf, welche Folgen es habe, wenn die Reise in das  ‚Erwachsensein‘ ständig weiter hinausgeschoben wird. Die Anwesenden sind durchaus vorbereitet. Sie wissen aus Lehrbüchern, welche Entwicklungsaufgaben im Jugendalter zu bewältigen sind: Berufliche Qualifizierung, Bindungen aufbauen und von den Eltern unabhängig werden, eine kritische Verbraucher- und Konsumentenrolle entwickeln sowie am gesellschaftlichen Leben aktiv teilnehmen. Schlüsselbegriff: Partizipation.  Doch erlesenes Buchwissen ist nicht erlebtes Wissen – Lebenserfahrung. Und genau mit diesem reichen Fundus gewinnt Klaus Hurrelmann die ungeteilte Aufmerksamkeit und gespannte Teilnahme seines jungen Auditoriums, indem er wissenschaftliche Erkenntnisse mit Rückbezügen auf sein eigenes Leben als Kind und Jugendlicher plastisch der Vorstellungswelt seiner jungen Hörerschaft nahe bringt.

„Kniebeugen rauf und runter, ein besonders ungünstiges Modell des Gymnasiums“

1944 geboren. Nachkriegszeit. Das Kind, nennen wir es Klaus H.,  ist erst vier Jahre alt, als der Vater, den sein Sohn nur von dem Foto auf dem Nachttisch und aus den Erzählungen der Mutter kennt, unerwartet als Kriegsheimkehrer in das Leben des Kindes „hereinschneit“. Ein traumatisierter Mensch, der sich aus dem Korsett von Krieg und Naziideologie innerlich nicht hatte frei machen können. Irritierend und fremd. Klaus Hurrelmann beschreibt diese Zäsur anschaulich, die Stimmung der Nachkriegszeit in  Nordenham wird greifbar. Volksschule. Abschluss nach acht Jahren. Nur einer Handvoll Kinder wurde der Übergang zum Gymnasium zugetraut. Klaus H. wäre beinahe nicht dabei gewesen. Am Ende musste der Schulleiter die Eltern von Klaus H. überzeugen, regelrecht bearbeiten, damit diese ihn, der dazu nicht aus bürgerlichem Elternhause stammte,  überhaupt auf die ‚höhere Schule‘  gehen ließen. Dort gab es kaum weibliche  Lehrkräfte, jedoch noch viele Lehrer mit autoritärer Gesinnung aus der Nazizeit. Schikanieren, Anschreien, ein Kasernenhofton hätten zu den Schülererfahrungen gehört, dieses „Kniebeugen rauf und runter, ein besonders ungünstiges Modell des Gymnasiums“, so erinnert sich Klaus Hurrelmann. Bei Regelverletzungen gab es nicht nur in der Schule oft die Prügelstrafe. So auch an einem dieser ‚Alltage‘  beim Spielen in einem dieser Innenhöfe des Städtchens im Oldenburger Land an der Wesermarsch.

„Keine große Nummer bei den Gleichaltrigen“

Mit einem Holzspielzeug hatte Klaus H. versehentlich eine nur auf dem Schwarzmarkt mühsam erwerbbare Fensterscheibe eingeworfen. „Warte bis Vati kommt!“ rief die Mutter vom Balkon. Die Strafe folgte dann in der Speisekammer: „Hose runter! Teppichklopfer.“ So wurden Erziehungsziele „eingebläut“. Der Schmerz sei nicht das Schlimmste gewesen, viel mehr die beabsichtigte Konditionierung durch Demütigung, Erniedrigung und Angst, nicht selten stille Begleiter der in diesen Zeiten praktizierten Erziehungsmethoden. Zwischendurch gelingt es dem Professor intensiv aus pädagogischer Sicht seine historischen Erfahrungen mit der aktuellen Gegenwart seines jungen Zuhörerkreises aus den Generationen „Y“ und mehr noch „Z“, wie sie in der Fachwelt bezeichnet werden, zu kontrastieren: Fluch und Segen des Medienkonsums, Komplexität und Unübersichtlichkeit der Anforderungen, Ängste vor Terror, Folgen des demografischen Wandels. Klaus Hurrelmann beschreibt sich in der persönlichen Rückschau als einen begabten und lerneifrigen Schüler, einen eher stillen und angepassten Jungen: „Keine große Nummer bei den Gleichaltrigen.“ Der Vater, der sich von seinem Sohn ein anderes Jungenideal erhoffte „sah das mit Unruhe“. Jetzt legt der Professor dar, wie damals und  heute, ‚normale‘ Entwicklung aus dem Ruder laufen kann. Diese Erfahrungen haben seinen pädagogischen Blick geschärft und seine berufliche Entwicklung  beeinflusst. Klaus H. will in der weiterführenden Schule  „nicht als sensibles Jüngelchen gelten“. Vielmehr sucht er nach Anerkennung bei Gleichaltrigen. In diesem Alter würden damals wie heute wichtige Weichen gestellt.

Herausforderung der Lebensphase Jugend

Klaus H. will auffallen, damit er nicht abseits steht. Gezielt kauft er sich keine Bahnfahrkarte, wird entdeckt und bekommt als Schwarzfahrer Ärger mit dem Schaffner. Mitschülern nötigt dieser Regelverstoß gehörigen Respekt ab. Alle Achtung. Endlich darf er dazu gehören. Er kommt in Kontakt mit einem Mitschüler, der auffallend tolle und begehrenswerte Dinge besitzt, u.a. neue Schallplatten, die in den Nachkriegsjahren nur schwer zu bekommen waren. Einen  Haken hatte die Sache: Die Objekte der Begierde waren nicht ehrlich erworben, sondern zusammengeklaut worden. Ein weiterer älterer Schüler nimmt die beiden Jungs, die sich „bewährt hatten“ auf seinen Streifzügen mit. Aus dem sensiblen und schüchternen Jungen aus Gotenhafen, das heute Gdynia heißt und in Polen liegt, aus dem Klaus H., der mit seiner Mutter zum Ende des Krieges vor den Truppen der Roten Armee aus seiner ostpreußischen Heimat vertrieben zunächst in das sächsische Leipzig fliehen und in der Kleinstadt Nordenham ein neues Zuhause gefunden glaubte, war ein Junge geworden, der sich irgendwie durchboxen und sich bei Gleichaltrigen um jeden Preis einen – wenn auch zweifelhaften – Ruf erwerben wollte. Negative Anerkennung. Nun war er sogar zum Klassensprecher gewählt worden. Der Professor skizziert am eigenen biografischen ‚Fallbeispiel‘, wie eng Gelingen und Scheitern im Prozess der Persönlichkeitsentwicklung beieinander liegen können. Aus der Distanz der vergangenen Jahre taucht der Wissenschaftler in seine Lebenszeit ein und entdeckt dabei die Herausforderungen der Lebensphase Jugend … in sich selbst.

Von der Schulbank in die Arrestzelle

Am Ufer der Weser entwenden die Angehörigen der nun als „Bande“ auftretenden Jungs aus den herumliegenden Kleidungsstücken von im Fluss Badenden Geld, zunächst acht Mark. Hurrelmann: „Ganz klar. Ein krimineller Akt!“ Vierzehn Jahre alt. Strafmündig. Er schildert das Klopfen an der Klassenzimmertür und im Herzen, die erschienenen Beamten der Kriminalpolizei, die einberufene Lehrerkonferenz und die Reaktionen seiner Eltern. Vier Wochenendarreste in der Zelle eines richtigen Gefängnisses mit morgendlich ausgegebenem Haferschleim, mittags Erbsensuppe und am Abend Wasser und trocken Brot. Von allen öffentlichen Schulen des Landes Niedersachsen verwiesen. Die Prognose: Schiefe Bahn!? Der heute 74jährige, ein Mann, der in der Welt herumgekommen ist, hat diese Bilder an seine Kindheit und Jugend nicht vergessen. Und deshalb bleibt es sein unausgesprochenes Herzensanliegen an alle, die mit Erziehung zu tun haben, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen individuell zu fördern. Ganz nebenbei wird dabei auch klar: Es bedarf immer Menschen, die zuhören, hinsehen und Neuanfänge, eine zweite Chance, ermöglichen. Dass sich diese Chance gelohnt hat und dass sie im Gegenzug auch von dem jungen Klaus H. durch eigene Anstrengung ergriffen wurde, zeigt die erfolgreiche Karriere von Prof. Hurrelmann.  Ein Schüler sagt im Anschluss: „Ich hatte am Anfang erwartet, das wird so ein trockener Vortrag. Aber das war richtig gut“. Und so kann der heute 74-jährige Senior, der im Herzen sichtbar Junior geblieben ist, auf die Frage einer Schülerin: „Wie fühlen Sie sich eigentlich dabei, wenn sich tausende von Schülern im Unterricht mit ihren Texten beschäftigen?“ beruhigt und schmunzelnd antworten: „Gut!“ Im Nachgang trägt sich Hurrelmann in das Gästebuch der Schule ein, der er „unter dem Eindruck von höchst engagierten Schülerinnen und Schülern eine große Zukunft“ wünscht.